Herr Scherleitner, um den Begriff „Industrie 4.0“ kommt man auch in der Schweißtechnik kaum noch herum. Was verstehen Sie darunter?
Industrie 4.0 steht für die Digitalisierung und Vernetzung in der industriellen Produktion, eines der wichtigsten Themen unserer Zeit. In unserem Privatleben ist die Digitalisierung ja bereits gang und gäbe – Beispiele sind die sozialen Netzwerke, E-Commerce oder Vergleichsportale für Hotels und Flüge. Es gilt nun, die Vorteile, die wir von dort bereits kennen, auf die Industrie umzulegen: Ähnlich wie bei einem Hotelbuchungsportal, das Angebote vergleicht und die günstigsten Preise ermittelt, können Unternehmen eine Anfrage an ein „Bauteilproduktionsportal“ richten. Dieses übermittelt sämtliche Informationen über Supply-Chain, Kapazitätsauslastungen und Produktionsdaten direkt an die Fertigung, so dass die gewünschten Bauteile umgehend hergestellt und geliefert werden können. Die Chancen durch die Digitalisierung sind immens – von internen Effizienzsteigerungen bis zur Einführung völlig neuer Geschäftsmodelle.
Vor welchen Herausforderungen sehen Sie die Schweißtechnik-Branche im Zusammenhang mit Industrie 4.0?
Der Fokus von Stromquellen-Herstellern verändert sich: Während jahrzehntelang die Umwandlung von Strom der Schlüssel zum Erfolg war, ist es heute die Digitalisierung des Schweißprozesses. In Zukunft sind Kommunikation, Echtzeit-Datenkontrolle, Datenspeicherung, Cyber-Sicherheit und intelligente Mensch-Maschinen-Interfaces die treibenden Kräfte in der Entwicklung. Software-Tools, die zum Beispiel Parameter optimieren oder Verschleißteile managen, werden eine dominantere Rolle spielen. Die Hardware hingegen rückt in den Hintergrund. Dass sie fehlerfrei funktioniert, ist allerdings nach wie vor Voraussetzung.
Die Anforderungen an Schweißgeräte werden sich also stark verändern?
Das haben sie bereits: Die Stromquelle der Zukunft ist ein High-End-Computer mit starkem Mikroprozessor und intelligenter Software. Dennoch dürfen wir die Qualität von elektrotechnischen Bauteilen nicht außer Acht lassen. Produktionstechnologien müssen sich rasch und effizient an unterschiedlichste Anforderungen anpassen, das gilt auch für moderne Schweißsysteme. Einfache Bedienung, unkomplizierte Systemkonfigurationen, rasche An- und Einbindung in automatisierte Anlagen sowie die Produktion von permanent hoher Qualität sind hierfür die Faktoren.
Wie setzt sich Fronius mit dem Thema Digitalisierung auseinander?
Die digitale Transformation ist ein fester Bestandteil unserer Unternehmensstrategie, und wir beschäftigen uns intensiv mit der Weiterentwicklung unserer Systeme. Wir haben schon 1998 die erste voll digitalisierte Stromquelle auf den Markt gebracht und bereits einige Jahre später mit der Entwicklung der nächsten Generation begonnen. Diese ist seit 2013 als TPS/i verfügbar. Auch andere Innovationen wie das Datenanalysesystem WeldCube oder der Schweißsimulator Virtual Welding stehen voll und ganz im Zeichen der Digitalisierung.
Was fordert Sie dabei besonders heraus?
Das Schwierige an der Entwicklung von Innovationen ist, dass es am Anfang zwar eine Vision gibt, aber noch keine konkreten Angaben zur Umsetzung. Deshalb arbeiten wir intensiv mit verschiedenen Forschungsstellen zusammen. Natürlich stellt uns Industrie 4.0 auch als Unternehmen vor Herausforderungen. Wir müssen unsere internen Strukturen anpassen und mit neuen Tools arbeiten. Ich denke hier etwa an unser Product Life Cycle Management zur ganzheitlichen Steuerung aller Produktdaten und Prozesse von der Entwicklung und Herstellung über den Vertrieb bis hin zur Wartung. Denn schließlich möchten wir die Chancen der Digitalisierung auch nutzen, um unsere eigenen Prozesse effizienter zu gestalten und um neue Geschäftsmodelle zu identifizieren, etwa im Bereich Softwaremanagement.
Zentraler Aspekt der Digitalisierung ist die Erzeugung und Verarbeitung von Daten. Wie wirkt sich das in Ihrer Branche aus?
Der Aussage „Daten sind der Rohstoff des 21. Jahrhunderts“ ist im Grunde nichts hinzuzufügen. Um sie zu erzeugen und auch effizient zu nutzen, braucht man eine neue Sensorik, eine extrem schnelle Übertragungstechnik, offene Schnittstellen für den Import von bauteilspezifischen Daten und deren Zusammenführung mit prozessrelevanten Schweißdaten sowie natürlich intelligente Analysemöglichkeiten. Wir können die gesammelten Daten nutzen, um Schweißprozesse zeitnah zu überwachen, auszuwerten, zu dokumentieren und eventuell zu korrigieren. Die entsprechende Software muss einfach in Produktionssysteme zu integrieren und wartungsarm sein. Idealerweise lassen sich die Daten aller Stromquellen unternehmensübergreifend zusammenführen. Diese Ansprüche haben wir auch bei der Entwicklung unserer WeldCube berücksichtigt.
Die zunehmende Vernetzung ist ein weiteres bedeutendes Merkmal von Industrie 4.0. Wie schätzen Sie die Bereitschaft ein, Daten über Unternehmensgrenzen hinweg auszutauschen?
Entscheidend hierfür ist, dass die geteilten Daten auch sicher gegenüber Unbefugten sind – und dabei ist in jedem Fall Achtsamkeit geboten. Fronius hat beispielsweise für die TPS/i ein spezielles System entwickelt, das die interne Kommunikation nach einem eigenen, sehr hohen Standard absichert. Natürlich wünschen sich viele Kunden, dass ihre Daten geheim bleiben – und wir respektieren das. Jedoch benötigt Digitalisierung auch eine Portion Offenheit. Unternehmen müssen sich austauschen und ihr Expertenwissen zusammenbringen, um die immer komplexeren Herausforderungen lösen zu können.
Inwiefern profitieren Ihre Kunden von der zunehmenden Digitalisierung und Vernetzung?
Für unsere Kunden ergeben sich viele Vorteile. Die schnelle Datenerfassung und -verarbeitung ermöglicht neue, zukunftsweisende Prozessvarianten, zum Beispiel LSC und PMC, und Zusatzfunktionen wie den Lichtbogenlängen und den Einbrandstabilisator. Auch der Service wird einfacher und schneller: Unser „FeeL Remote Support” etwa erlaubt den Fernzugriff auf eine TPS/i-Stromquelle zur Fehlerdiagnose und -behebung, Datenanalyse oder Prozessoptimierung. Natürlich gibt es auch Anwender, die den Informationsgehalt dieser Datenflut nur bedingt nutzen können. Hier setzen wir an, um unsere Kunden ganz individuell nach ihren Bedürfnissen zu unterstützen.
Wie könnte die weitere Entwicklung der Schweißtechnik aussehen?
Ziel von Industrie 4.0 ist unter anderem die Errichtung von autonom arbeitenden Produktionszellen. Das heißt für den Schweißprozess: Ein Computer legt Nahtgeometrien und Lagenaufbau fest und wählt, kontrolliert und regelt die Schweißparameter selbstständig. Dies führt zu einer „Smart Factory“, in der sich Fertigung und Logistik weitgehend selbst organisieren und Komponenten nur noch nach Bedarf hergestellt werden. Unternehmen können so dem Trend zu individualisierten Produkten Rechnung tragen, die Effizienz steigern und die Kosten senken. Im Zuge dessen gewinnen generative Fertigungsverfahren an Bedeutung, bei denen auch der Lichtbogen eine wesentliche Rolle spielt. Unser Schweißprozess CMT kann die Basis für eine effiziente Herstellung von metallischen 3D-Geometrien bilden. Aber auch Virtual Welding wird hier zukünftig ein wichtiges Tool sein, nicht nur fürs Training, sondern vor allem, um im Voraus einen Eindruck von der Schweiß-Realität zu schaffen.
Wird das Schweißen irgendwann ohne Menschenmöglich sein?
Diese Vision wird sich zumindest in den nächsten Jahrzehnten nicht zu 100 Prozent realisieren lassen. Allein schon die Digitalisierung des gesamten Expertenwissens eines Schweißtechnologen ist eine riesige Herausforderung. Zurzeit fokussieren wir uns darauf, den Schweißprozess noch kontrollierbarer zu machen, um fehlerfreies Schweißen zu ermöglichen.
Harald Scherleitner hat seine berufliche Laufbahn 1994 als Elektromechanik-Lehrling bei Fronius begonnen und später die Tochtergesellschaften in Mexiko und Brasilien mit aufgebaut. Nach acht Jahren an der Spitze der Business Unit Perfect Charging übernahm Scherleitner im Sommer 2016 die Leitung der Fronius Business Unit Perfect Welding.